Home
(zur Startseite) > www.saar-nostalgie.de
1948:
Mein Vati kehrt aus der Kriegsgefangenschaft heim
von Rainer Freyer
Sie
können sich diesen Text auch anhören (Aufnahme mit Susanne Wachs
von SR3): bitte hier klicken und in dem sich
öffnenden
Fenster
auf "OK" bzw. "Öffnen" drücken (Dauer:
knapp fünf Minuten).
a)
Mein schönstes Weihnachtsgeschenk
|
Lisez
cette histoire >
en Français
|
Mein Vater befand sich im Zweiten
Weltkrieg als Soldat zunächst in Frankreich und
später in Russland. Die Tatsache meiner Geburt
verdanke ich dem glücklichen Umstand, dass er im
August 1941 Heimaturlaub bekam.
Neun Monate
später erhielt er in der Ukraine das hier rechts
abgebildete Telegramm von zu Hause. Darin teilte ihm
meine Tante Paula mit, dass ich auf die Welt
gekommen war. Sie musste es wissen, denn sie war
dabei, als mich der Klapperstorch im 3. Stock des
Hauses Nr. 4 am Hüttenberg in Neunkirchen
ablieferte.
Im Mai 1948
wurde ich sechs Jahre alt, und danach kam ich in die
Volksschule. Zwei Tage vor dem Heiligen Abend fingen meine ersten
Weihnachtsferien an. Als ich an diesem Tag morgens
wach wurde, stand ich auf und trippelte im Schlafanzug in die Küche.
Meine Mutter klapperte schon mit dem Geschirr; sie
war dabei, unser Frühstück vorzubereiten, so wie
jeden Tag. Aber
heute erblickte ich etwas Ungewöhnliches in der
Küche.
Was war das,
was da an meinem Platz über dem Stuhl hing? Ich
fragte meine Mutti erstaunt und ungläubig: "Ja, ist
denn das Christkind schon da gewesen und hat mir
eine lange Hose zu Weihnachten gebracht?" Und ich
sah noch etwas Seltsames: Auf dem Tisch stand eine
große Glasschüssel mit Spritzgebackenem und anderen
Plätzchen! Wie denn, Weihnachtsgebäck schon
zwei Tage vor dem Heiligen Abend? Das konnte doch
nicht sein... Meine Mutter hatte zwar in den Wochen
vor dem Fest schon ein paarmal dem Christkind unter
die Arme gegriffen und Plätzchen gebacken. Wir
durften ihr dabei sogar helfen und mitbacken. Doch
am nächsten Morgen hatte das Christkind die
Plätzchen immer schon abgeholt, und wir mussten bis
zum Heiligen Abend warten, bevor wir sie
wiedersahen, bei der Bescherung. Aber dieses Jahr,
heute schon Plätzchen auf dem Küchentisch?
Meine Mutter
sagte zu mir "Geh mal ins Schlafzimmer!" Ins
Schlafzimmer? Da war ich doch gerade hergekommen,
und mir war im Halbdunkel nichts Besonderes
aufgefallen. Neugierig ging ich zurück und erlebte
eine riesige Überraschung: Da lag ein ausgewachsener
Mann in dem großen
Doppelbett, in dem sonst meine Mutter und mein Bruder Klaus schliefen. Dieser war drei Jahre älter als ich, und
jetzt lag er da, neben diesem Mann, in seinen Armen.
Ich wusste sofort, das
muss mein Vati sein, von dem uns unsere
Mutti immer erzählt hatte - dass er in Kriegsgefangenschaft
war und dass wir alle darauf warteten, dass er
irgendwann endlich wieder nach Hause käme. Ich hatte ihn noch nie gesehen
in meinem jungen Leben, nicht bewusst jedenfalls.
Denn als er 1943 zum letzten Mal vor dem Kriegsende
auf Heimat-Urlaub bei uns war, war ich erst ein Jahr
alt (auf dem Foto
links
sieht man mich damals auf seinem Schoß sitzen).
Aber daran konnte ich mich jetzt natürlich nicht
mehr erinnern.
Ein wenig
schüchtern krabbelte ich zu meinem Vati ins Bett,
und dann erzählte er uns, dass er mitten in der
Nacht aus Russland heimgekehrt war. Er und seine
Kameraden seien mit dem Zug gefahren, eine ganz
lange Strecke, mehrere Tage hätten sie dafür
gebraucht. Und als sie endlich die ersten Bahnhöfe
in Deutschland erreichten, wurden sie dort von
wildfremden Leuten jubelnd begrüßt. Sie hätten ihnen
belegte Brote und Weihnachtsplätzchen durch die
Waggonfenster gereicht und sich mit ihnen gefreut,
weil sie jetzt endlich nach Hause kommen durften.
Die meisten Plätzchen, die unser Vati dabei erhielt,
hatte er für seine zwei Buben aufgehoben und
mitgebracht. Und deshalb stand bei uns in diesem
Jahr ausnahmsweise schon vor dem Fest
Weihnachtsgebäck auf dem Tisch, und ich durfte - mit
sechs einhalb Jahren - endlich meinen Vater kennen
lernen.
Am ersten
Schultag nach den
Weihnachtsferien fragte uns unsere Lehrerin, was wir
denn geschenkt bekommen hätten zu Weihnachten. Meine
Mitschüler erzählten von Kleidern und Spielsachen
und anderen Dingen. Als ich aber an die Reihe kam,
sagte ich, glücklich und voller Stolz:
"Mir
hat das Christkind zu Weihnachten meinen Vati
gebracht!"
Sie können
sich diese Geschichte auch von mir mündlich erzählen lassen
(siehe oben rechts neben der Überschrift; bitte
Lautsprecher einschalten!) Sie wurde am 24.
Dezember 2013 in der Sendung "Alle Jahre wieder"
mit Susanne Wachs auf SR 3 Saarlandwelle gesendet.
Diese
Geschichte habe ich vor ein paar Jahren auch als
"Hausaufgabe" in meinem Spanischkurs am
Sprachenzentrum der Universität Saarbrücken in Kurzform auf Spanisch niedergeschrieben. Wer
möchte, kann sie hier lesen (este cuento se puede leer en español aquí.)
b)
Post aus Russland
Schon ein Jahr vorher musste
mein Vater geahnt oder jedenfalls gehofft haben, das
Weihnachtsfest 1948 wieder bei uns verbringen zu
können. Nebenstehende Karte, datiert am 13.11.1947,
hatte er uns aus russischer Kriegsgefangenschaft
geschrieben. Die Gefangenen durften nur einige
wenige Karten pro Jahr nach Hause schicken, und auch
die Anzahl der Wörter war begrenzt, deshalb der
"Telegrammstil". Da die abgebildete Karte mit dünner
Tinte geschrieben war, die inzwischen (nach über 60
Jahren!) stark verblasst ist, ist sie kaum noch
lesbar. Aber ich kann sie noch heute entziffern. Der
Text neben selbst gemalter Kerze, Kugel und
Tannenzweig lautet:
"Liebe
Martha, Klaus, Rainer. Bin gesund. Geburtstags-
grüsse [meine
Mutter hatte am 11. November Geburtstag]. Meine Gedanken
Heiligabend bei Euch. Grüsse alle. Nächste
Weihnachten zu Haus. Tausend Grüsse Küsse Vati.
FROHE WEIHNACHTEN."
|
Vier
Monate vorher, am 1. Juni 1947, hatte er
schon einmal eine Karte nach Hause
geschrieben, sie hatte folgenden Wortlaut:
"Überglücklich
Bildbrief erhalten. Was hab ich Buben.
Wenn es schwer ist, dann Bild sehen.
Herze lacht. Klaus soll brav sein.
Edithbrief erhalten. Bin gesund. Wann
Wiedersehen? Tausend Grüsse Küsse auch
alle Bekannten. Willi. Kein Brief mehr
schreiben. Rückantwort nur mit Tinte."
Letzteres
sollte
bedeuten, dass meine Mutter gemäß den
strengen Vorschriften nur Karten, keine
Briefe mehr schreiben sollte, und nur mit
Tinte, nicht mit Bleistift, weil mein
Vater sie sonst wohl nicht mehr erhalten
hätte. Bei "Edithbrief" handelte es sich
wohl um einen Brief, den ihm seine Nichte
Edith geschickt hatte. Und mit "Bildbrief"
meinte er einen Brief meiner Mutter mit
Foto, den sie ihm einige Zeit vorher nach
Russland in die Gefangenschaft geschickt
hatte.
<
Dies
war das Bild, das sie ihm beigelegt
hatte, und das er sich dort immer wieder
anschaute, wenn es ihm schwer ums Herz
war. Er hat das Foto später aus der
Gefangenschaft mit nach Hause
zurückgebracht; nach den anderthalb
Jahren, die es mit ihm zusammen in
Russland verbrachte, war es ziemlich
verschlissen.
|
Hier die Vorderseite einer anderen Karte,
die mein
Vater aus
Russland nach Hause schickte:
Bild unten links: unser Vati im Krieg
(vorne,
zweiter von rechts), etwa 1943/44
Bild unten rechts: mein Bruder Klaus
(links)
und ich, "dehemm"
|
|
1947 wurde
die Heimkehr der ersten Kriegsgefangenen
angekündigt, und so hatten in diesen Jahren viele
Kinder in Deutschland und im Saarland ähnliche
Erlebnisse wie ich. Ein saarländischer
Mundartdichter verfasste unter dem Pseudonym "Black
von Kaltnack" (Kaltnack bzw.
Kaltnaggisch ist der volkstümliche Name des
Dudweiler Ortsteils Herrensohr) dazu dieses
Gedicht (Ausschnitt aus der SZ vom 16. Januar
1947; ich entdeckte es in der Ausstellung des
Dörrenbacher Heimatvereins beim Landesfest 2007 in
Saarbrücken):
c)
"Bürokratisches" anlässlich der Heimkehr aus
Kriegsgefangenschaft
Mein Vater
war am 6. April 1945 in russische
Kriegsgefangenschaft geraten; am 20. Dezember 1948
wurde er endlich nach Hause entlassen.
|
Dies
ist der Entlas- sungsschein meines Vaters
aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1948.
Genau
in der Mitte ist ein Stempel angebracht,
welcher besagt: "Libéré par les autorités
russes" (von den russischen Behörden auf
freien Fuß gesetzt).
Darunter
bescheinigt der Arzt der Kontrollkommission
deutscher Kriegsgefangener, dass der Inhaber
"ungezieferfrei ist und keine ansteckenden
oder übertragbaren Krankheiten hat".
Das
erste Dienstsie- gel lautet "C. S. T. O. -
Commission de Contrôle des Prisonniers de
Guerre Allemands" und das zweite
"Commandement sup. des troupes d'occupation"
(Oberkommando
der Besatzungstruppen).
Ganz
unten (links) ist der Fingerabdruck (rechter
Daumen) des ehemaligen Kriegsgefangenen zu
sehen.
Das
Dokument ist beglaubigt durch Oberst
Bailloux, Chef de l'Annexe de la Direction
Générale des Prisonniers de Guerre Allemagne
- Autriche.
|
Ein Ausschnitt aus
der Rückseite des Entlassungsscheins:
|
Unterwegs
wurde in Tuttlingen (damals in Württemberg-
Hohenzollern) vermerkt, dass der Heimkehrer
vom Roten Kreuz eine Marschverpflegung
erhalten hatte (unten
rechts). Ebenfalls in Tuttlingen
drückte (oben
rechts) der "Staatskommissar für
die Umsiedlung für das französisch besetzte
Gebiet" einen Stempel auf das Papier, mit
dem er verfügte, dass mein Vater sich beim
Landratsamt Ottweiler (Umsiedlungsamt) zur
weiteren Prüfung zu melden habe.
Ein
anderer Stempelaufdruck besagte, dass er bei
Anmeldung auf dem Bürgermeisteramt sämtliche
militärischen Ausrüstungs- und Bekleidungs-
gegenstände
abzuliefern hatte, welche die Ämter wiederum
dem zuständigen Gouvernement Militaire
übergeben mussten. Außerdem hatte er sich
beim "Commissariat de la Sûreté" des
zuständigen Kreises zu melden. Gleich
am ersten Tag nach seiner Ankunft in
Neunkirchen begab er sich zur Stadtverwal-
tung, wo er sich beim "Statistischen Amt der
Stadt" anmelden musste (siehe
Vermerk unten links).
|
|
Mit
diesem Feststellungs- bescheid wurde meinem
Vater im Mai 1955, sechseinhalb Jahre nach
seiner Heimkehr, auf seinen Antrag hin eine
"Entschädigung"
in Höhe von 72.000 Francs für
die dreieinhalb Jahre Kriegsgefangenschaft zugestanden.
Diese
Summe entsprach damals einem Betrag von
ungefähr 700 DM (das wären heute rund 358
Euro).
Für
jeden Monat wurden 3.000 Frs. gewährt, also
etwa 15 Euro, aber erst für die Zeit nach
dem 1.1.1947; für die 21 Monate davor gab es
keine Entschädigung.
|
Diese Seite wurde am 15.2.2008 begonnen,
zuletzt bearbeitet am 29.3.2020
|